Einsam in China

„Wie geht es dir eigentlich in China?“, fragte mich vor kurzem ein Freund.

Ich überlegte. Ein halbes Jahr war vergangen, seitdem ich nach China gezogen war. Sechs ganze Monate, mehr als 25 Wochen. In dieser Zeit habe ich so einiges erlebt. Ich hatte ein Semester an der Uni unterrichtet, einen Salsa-Kurs begonnen, Sonntagmorgens mit Einheimischen Beachvolleyball gespielt, ein paar Brocken Chinesisch gelernt, verschiedene Spezialitäten gekostet, die ein oder andere traditionelle Festlichkeit mitgefeiert und sogar mit einer Freundin Dumplings gemacht. Ich hatte nicht nur Menschen aus China, sondern aus der ganzen Welt kennengelernt. Mein internationaler Bekanntenkreis war durch jede Wochenendaktivität, jeden Restaurantbesuch, jedes Event gewachsen. Von außen betrachtet alles Hui.

Wie ging es mir aber nun nach einem halben Jahr voller spannender Aktivitäten, Bräuchen und all den neuen Bekanntschaften?

Nach einem kurzen Zögern antwortete ich dem Freund schließlich leise:

„Ich fühle mich, ehrlich gesagt, ziemlich einsam.“

Sobald der Satz aus meinem Mund war, musste ich schlucken. Mir wurde bewusst, dass ich dieses Gefühl schon einige Zeit mit mir herumtrug. Und dass ich es etwa genauso lange gekonnt ignoriert hatte.

Natürlich kann man, wenn man beschließt, ins Ausland zu gehen, nicht alles mitnehmen. Freunde, Familie und die vertraute Umgebung passen in kein Handgepäck. Vieles, was mir am Herzen liegt, ist gefühlt weit weg. Kaffeetrinken mit der Familie, ein Spaziergang am See, wöchentliche Treffen mit Freunden. Aber deshalb bin ich nicht einsam.

Mir fehlt etwas. Oder jemand.

Mir fehlt etwas anderes. Oder vielleicht jemand?

Ein Jemand, mit dem ich mich über meine Erlebnisse im fernen Osten austauschen kann. Ein Jemand, der mich herzlich umarmt, wenn ich das Handtuch werfen will. Ein Jemand, der mich einfach nur versteht.

Damals in Mexiko war dieses Gefühl nicht so präsent. Oder hatte ich es auch da nur ignoriert? Waren die Umstände in Mexiko andere?

Ein Rückblick: Auch in Mexiko war ich zunächst allein und fremd. Aber – jetzt fiel es mir ein, dort hatte ich gleich zu Beginn (wie sich später zeigen sollte) zwei sehr wertvolle Freundschaften geknüpft. Mit zwei jungen Frauen, die wie ich neu waren, die ebenso mit einer anderen Kultur konfrontiert wurden und die genauso strauchelten und immer wieder aufstanden.

In Mexiko war es anders…

In China ist es nun anders. Zwar gibt es hier auch einige Ausländer, ja sogar eine ganze Menge, die untereinander vernetzt sind. Dennoch spüre ich innerhalb dieser group bisher keine wahre Beziehung.

War ich deshalb einsam? Weil mir eine Vertrauensperson fehlte? Weil ich keine Lust auf Party-Beziehungen mit anderen Ausländern hatte?

Ich zweifelte.

Das Schicksal half (mal wieder) kräftig nach, um meine Fragen zu beantworten. Denn Anfang August sollte mich eine der beiden Herzensfreundinnen aus Mexiko tatsächlich in China besuchen. Und das sogar für drei Wochen.

Am 8. August war es soweit. Ich holte M. vom Flughafen ab. Ein wenig zu früh stand ich in der Ankunftshalle und beobachtete die anderen Wartenden. Die meisten Köpfe hingen über Smartphone-Displays, ein paar einzelne hoben den Blick zur Arrival-Information an der Wand. Die Schiebetür hinter der Absperrung öffnete sich rhythmisch. Klick. Klack. Klick. Klack. Sliding doors. Ich wartete gespannt.

Und plötzlich stand M. vor mir. Etwas müde und zerzaust vom Langstreckenflug. Sie strahlte. Dann drückten wir uns mehrmals und innig. Nach fast einem Jahr sahen wir uns jetzt auf der anderen Seite der Welt wieder. Und schüttelten dabei lachend die Köpfe. Wer hätte das gedacht: Von Mexiko nach China.

Was mir von den drei Wochen neben Sightseeing und Reisen am meisten von M.s Aufenthalt in Erinnerung geblieben ist, sind unsere Gespräche. Und zwar nicht (nur) über das exotische Essen oder die extravagante Mode chinesischer Studierender, sondern vor allem über unsere Gefühle und Wahrnehmungen. Was die verschiedenen Situationen und Begegnungen in China alles in uns auslösten.

M. war genau die ehrliche Vertrauensperson, die ich insgeheim vermisst hatte. Und mir wurde wieder bewusst, wie wichtig eine solche Person für mich ist. Wie wichtig es für mich ist, Erlebnisse zu teilen und noch viel mehr: mit jemandem darüber zu reflektieren.

Die drei Besuchswochen vergingen wie im Flug. Zwar hatten wir ein sehr gemächliches Reisetempo – bei schwül-heißen 40°Grad, dennoch erlebten wir viel. Von Shanghai ging es nach Suzhou und dann zurück nach Qingdao, um hier verschiedene Viertel zu erkunden.

Doch M.s Abreisetag rückte unvermeidlich immer näher und näher, bis es schließlich so weit war. Am 30. August, morgens um 5 Uhr tranken wir einen letzten Kaffee bei McDonalds, schwarz, dampfend und bitter, dann hieß es „Bye Bye“. M. verschwand so schnell in der Menschenmenge, wie sie vor drei Wochen aus ihr hervorgetaucht war. Ich blieb noch eine Weile stehen. Die Anwesenheit meiner Vertrauensperson war passé. Ich schluckte.

***

Heute, zwei Wochen später, merke ich, dass die Einsamkeit größer ist denn je. M ist zurück in Deutschland und meine Wohnung wieder leer. Die Luftmatratze ist im Schrank und im Bad hängt nur noch ein Handtuch.

Ich fühle mich einsam. Und nicht zu wenig. Das Gefühl kriecht langsam in jede Zelle meines Körpers und lässt mich schwer atmen. Als es dämmert, kommen meine vier Wände immer näher auf mich zu und die Decke senkt sich gefährlich tief herab. Da, im letzten Moment vor dem Zerquetschen, vibriert mein Handy.

„Kommst du heute Abend mit? LG, die group.

Ich überlege nicht lange, brezel mich auf und gehe in die Bar, in die an diesem Abend alle gehen. Ich tanze, ich lache, ich trinke. So wie das die group hier auch tut. Woche für Woche. Ich blicke in Gesichter aus der ganzen Welt. China. Russland. Deutschland. Frankreich. Spanien. Südafrika. Pakistan. Indien. USA. Alle versammelt. Sie tanzen. Sie lachen. Sie trinken. Keine Zeit für tiefere Gespräche. Sie sagen, sie seien glücklich. Dabei spiegeln sich die Lichter in ihren glasigen, ausdruckslosen Augen.

Drei Tage halte ich es aus. Nehme jede Party, jedes Event, jedes Zusammenkommen mit. Es ist Mondfest und die Uni hat geschlossen. Ich schlafe lange, lebe wenig. Die Wohnung ist nicht mehr leer und gleichzeitig so leer wie nie zuvor. Abends werde ich Teil der formlosen group. Finde „Freunde“, flüchte in die Gemeinschaft. Eine betäubende Welt voller bunter Lichter und falscher Gefühle.

Am dritten Abend passiert es dann.

Ich laufe gegen eine Glastüre. Buchstäblich. Klirrr.

Innerhalb einer Minute ertaste ich die wachsende Beule. Es schmerzt höllisch. Im Spiegel ist bereits ein rosa Fleck auf meiner Stirn zu sehen, dicht über meinen verquollenen, ausdruckslosen Augen.

Und plötzlich weiß ich: Hier muss ich raus. Weg von Partys, weg von Alkohol, weg von denen, die nicht mal meinen ganzen Namen kennen. Oder ich ihren. Ich steige in ein Taxi. Lasse die group hinter mir.

Als ich kurz darauf in meinem Bett liege, das sich dank der letzten zwei Sangria wie die Krinoline im Kreis dreht, ist die Beule immer noch deutlich spürbar. Ebenso wie meine Einsamkeit.

Und wie ich da liegend leide, meinen Kopf halte und ein Bein auf den Boden stelle, um das Bett an der Weiterfahrt zu hindern, kommt mir ein klarer Gedanke:

Es gibt keinen Weg an der Einsamkeit vorbei.

Die Einsamkeit ist da, egal was ich tue. Egal wer mich besucht, egal, wie viel ich trinke, tanze, mich ablenke – sie wird nicht verschwinden. Sie ist in der group, im Alkohol, in jeglicher Ablenkung. Sie ist in China, in Deutschland, in Auswanderern ebenso wie in Daheimgebliebenen. Vielleicht wird sie mir hier im Ausland, fern von meiner Comfort-Zone, eher bewusst. Vielleicht helfen mir Gespräche mit einer Vertrauensperson, sie mehr zu akzeptieren. Im Grunde glaube ich allerdings, dass die Einsamkeit in jedem von uns steckt. Viele versuchen, die Augen vor ihr zu verschließen. Aber auf diejenigen wartet früher oder später auch eine Glastür und die Beule ist vorprogrammiert.

Was also tun, wenn die Einsamkeit unausweichbar ist?

„Bleib in ihr. Geh mit ihr. Halte sie aus. Und danach wirst du sehen, was kommt.“, antwortete mir der Freund, nachdem er meiner langen Geschichte aufmerksam zugehört hatte.

Ich will es versuchen. Auch, wenn das Atmen schon jetzt wieder schwer wird.

***

PS: Als ich M. von meinem Ausflug in die group erzähle, ist sie erstaunt, wie viel in ihrer kurzen Abwesenheit passiert ist. Und ich weiß sofort, obwohl uns jetzt wieder tausende von Kilometern trennen, wird sie weiterhin meine Vertrauensperson bleiben. So wie einige andere wertvolle Bekanntschaften auch, die ich über die Jahre hinweg machen durfte. ❤

Zeit, etwas Neues aufzubauen

10 Gedanken zu “Einsam in China

  1. Wie wahr dein Satz ist, Eva: „Die Einsamkeit ist da, egal was ich tue.“
    Wie viele Jahre meines Lebens überdeckte ich meine innenliegende Einsamkeit mit Parties und Alkohol, mit Abenteuern und sonstigen äußeren Aktivitäten! Rückblickend sehe ich: Je einsamer ich mich fühlte, desto mehr mein Drang – bzw. meine Not – nach Action.
    Bis mir das Herz gebrochen wurde. Ich fiel in ein tiefes Loch. Dort begegnete ich der Einsamkeit – ich fluchte und wollte vieles nicht wahrhaben bzw. anders haben, aber ich lief nicht davon. Wochenlang, monatelang.
    Bis sich in dieser Einsamkeit langsam etwas wandelte. Und etwas Neues wuchs.

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  2. Liebe Eva-Marie,
    danke für diesen persönlichen Text, der mich berührt! Ich kann sehr gut dein Bedürfnis verstehen, mit Menschen im Gespräch nicht nur auf der Oberfläche zu schlittern. Ja, Einsamkeit zeigt einem wohl, dass etwas Essentielles fehlt. Das wahrzunehmen (und anzunehmen) erleichtert schon ein wenig, finde ich. Und kann der Wegweiser sein, bewusst das zu suchen/sich für das bereitzuhalten und zu öffnen, was fehlt. Bei dir vielleicht wieder Menschen nah bei dir, mit denen mehr als Party möglich ist?! Vielleicht kennen in deiner „group“ ja doch noch andere insgeheim dieses Gefühl? Herzliche Grüße vom (quasi) anderen Ende der Welt! Sarah

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    1. Liebe Sarah,
      vielen Dank für deinen Kommentar.
      Ich glaube auch, dass die Einsamkeit ein Wegweiser sein kann, wenn wir uns trauen und sie zulassen.
      Und du hast recht, ich glaube, es gibt in der group noch andere mit dem gleichen Gefühl. Ich bin sehr gespannt, was noch passiert.
      Liebe Grüße auch an dich!
      Eva

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  3. Ja, man kommt niht vorbei. Keiner. Die meisten tun nur so – doch erst wenn wir bereit sind, die Einsamkeit zu fühlen und vor allem, sie nicht ständig kloswerden zu wollen – öffnet sich das GeWahrsein des allein seins – ALL EIN:

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    1. Danke für deinen Kommentar, Christa.
      Ich habe einige andere Rückmeldungen bekommen, wie „Tut mir so leid, dass du einsam bist.“ oder „Ich wusste nicht, dass es dir so schlecht geht. Wie kann ich helfen?“
      Die Mehrheit sieht Einsamkeit als schlecht/Problem an und will sie schnell wieder loswerden.
      Ich spüre, dass sie für mich im Moment auch noch unangenehm ist. Aber ich will sie einladen, anstatt immer wieder rauszuwerfen. Und vielleicht erkenne ich dann auch irgendwann den Unterschied zwischen einsam und allein sein.

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  4. Liebe Eva
    Im Grunde sind wir alle all -ein…
    bis zu dem Moment in dem wir uns als Teil eines Großen und Ganzen verstehen lernen……und, dass alles EINS ist.
    Drück dich ganz herzlich, Claudia

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    1. Liebe Claudia,
      wir kommen all-ein auf die Welt und gehen all-ein. Ich weiß gar nicht, warum wir uns dazwischen plötzlich einsam fühlen 🙂
      Danke für deinen Kommentar. Ich hoffe, irgendwann auch wieder dass all-eins spüren zu können.
      Liebe Grüße und Umarmungen auch an dich

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  5. Liebe Eva, ich bin lange Jahre immer wieder in das dunkle Loch der Einsamkeit gefallen. Die Einsamkeit hat viele Gesichter. Eins war wenn immer ich Christa verliess, ein anderes, dass ich jahrelang gekaempft habe fuer das wir im Haus im Ort und ich staendig sauer war, dass M. ueberhaupt kein Interesse zeigte. Zwischendurch gelang es immer wieder mal, in Zufriedenheit die Dinge zu tun und davon erfuellt zu sein. Dann fehlte mir nichts und niemand. Ich kann das gar nicht wirklich ermessen, was ich mir selber angetan habe mit meinen staendigen Erwartungen. Ich wuensche dir, dass du deine Loecher mit Gelassenheit durchschreiten kannst, egal wie beschissen es dir gehen mag.

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    1. Danke Gabriele, für das Teilen deiner Erfahrungen. Ich kenne das nagende Gefühl auch, wenn ich einen Ort der Gemeinschaft verlasse, die mich erfüllt hat und ich dann erstmal wieder alleine bin. Im ersten Moment habe ich dann manchmal das Gefühl von Einsamkeit und dass ich alleine sogar „überfordert“ bin. Andererseits bin ich manchmal auch sehr froh, nach der Gemeinschaftszeit wieder alleine sein zu können und brauche die Distanz und das Alleinsein. Es ist ganz unterschiedlich bei mir… Einerseits suche ich das Alleinsein und andererseits fühle ich mich dabei auch einsam

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