Auf der Suche

In den vergangenen Wochen ist der Herbst in Qingdao eingezogen. Die Nächte werden kühler und die Tage kürzer.

Das Wetter verhält sich ähnlich wie in Deutschland, die Bäume beginnen ihre Blätter abzuwerfen und der Boden strahlt lila-rot-gelb und knistert unter den Schuhen.  Lange Mäntel und Stiefel werden wieder aus den Schränken geholt und wärmender Schwarztee in den Teehäusern eingegossen. Die Sonne lässt sich an vielen Tagen noch einmal blicken und lädt ein, nach draußen zu gehen, bevor der Winter mit seinem undurchdringlichen Smog die Stadt heimsucht.

An einem dieser goldenen Herbsttage wache ich früh morgens auf. Aber nicht von allein. Ein lautes Etwas reißt mich aus den Träumen. Ich drehe mich um, da höre ich dieses Etwas erneut: Eine allesdurchdringende, chinesische Frauenstimme. Sie schallt durch das Megafon um ein zehnfaches verstärkt in mein Schlafzimmer, in mein Kopfkissen, in meinen Halbschlaf.

Ich stöhne. Es ist wieder soweit. Das Megafon, das ich mittlerweile schon gut kenne, ist erneut in Aktion. Ich verstehe zwar nichts von dem, was es es auf Chinesisch hinausposaunt, dennoch vermute ich – aus Erfahrung, dass wohl wieder ein Sportfest, eine Parade oder sonstige Versammlung auf dem Campus ansteht. Mein Gedanke wird bestätigt, als der Frauenstimme Chinas Nationalhymne und ein singender Menschenchor folgen. Danach wird zu Elektromusik gewechselt. Um 7 Uhr morgens… in Berlin würde man das Afterparty nennen.

So laut wie dieser Morgen spielen sich viele andere Alltagssituationen ab. Jedes Event , egal welcher Uhrzeit oder an welchem Ort, wird gebührend „beschallt“. Ob Sportfest auf dem Campus, Militärparade im Stadtzentrum, Hochzeit am Strand, Gottesdienst in der Kirche, Theateraufführung in den Schulen, eines ist immer präsent: das Megafon mit seinen überlauten Durchsagen und Musikeinlagen.

Aber nicht nur auf Festlichkeiten wird aufgedreht. Die „Lautsprecher-Stimme“ begleitet mich im Alltag wie mein täglich Brot: Dauerdurchsagen im Bus, in der U-Bahn, im Kaufhaus, ja sogar am Strand. Immer gibt es irgendetwas mitzuteilen. Es geht dabei um Sicherheitsvorkehrungen, selten um wichtige.

„Ob der Dauerlärm die Leute nicht auch stört?“, frage ich mich und stehe auf.

Einen ruhigen Gedanken zu fassen fällt mir allerdings schwer. Die ganze Beschallung wird mir nicht zum ersten Mal zu viel und ich weiß, dass ich heute eine „Ruhe“-Pause einlegen muss. Ich will weg vom Stadtlärm, weg von Auto-Gehupe, weg von Menschenmassen. Stattdessen hinaus in die Natur. Bäume statt Lautsprecher. Blätterrascheln statt Megafon. Vogelgezwitscher statt Durchsage.

Es trifft sich gut, dass sich kurz hinter dem Stadtrand von Qingdao das kleine Gebirge Laoshan (mit 1132m an seiner höchsten Stelle) erstreckt. Viele Wanderwege warten hier auf Ausflügler ins Grüne. Blaue Wasserfälle, Pagoden, die aus dem Nebel auftauchen und Steinfelsen schmücken die Werbefotos. Allerdings, um romantische Ideen gleich in ihrem Keim zu ersticken, muss eines klargestellt werden: Wanderwege in China definieren sich typischerweise durch Treppenstufen und große Menschenmassen. Wilde, einsame Pfade, wie man sie aus Europa oder Amerika kennt, sucht man hier länger. Stattdessen erklimmt man mit manchmal hundert Gleichgesinnten betonierte Treppenstufen. Wandern light. Das alles nehme ich aber für ein bisschen Ruhe vom Stadtlärm in Kauf.

Nach einer Stunde Busfahrt, auf der wir am Strand entlang immer tiefer ins kleine Gebirge eindringen, komme ich am Ausgangspunkt an. Trotz strahlendem Wetter und Wochenende sind nur wenige Personen unterwegs. Ich freue mich, heute scheinbar nicht nur dem Lärm, sondern auch den Menschenmassen für kurze Zeit zu entkommen. Am Wanderweg-Eingang gehe ich durch eine elektrische Schranke, bei der mein Ausweis gescannt wird. Auch hier eine Sicherheitsdurchsage auf Chinesisch. Diese lasse ich jedoch schnell hinter mir und beginne den (Treppen)Aufstieg. Ich atme tief durch und blicke auf die Bäume und Sträucher um mich herum, auf das Gras und den kleinen Bach, der sich den Berg hinunterschlängelt.

Nach ein paar Schritten werde ich stutzig und blicke mich um. Was ist das denn? Leise im Hintergrund, aber dennoch deutlich hörbar – ein Dudeln. Ja, jetzt, wenn ich genauer lausche, wird es immer lauter: Das ist gar kein Vogelgesang sondern chinesischer Zitterklang! Was um alles in der Welt? Ich suche den menschenleeren Weg nach dem Ruhestörer ab. Und da sehe ich ihn auch schon: den Lautsprecher. Und nicht nur einer. Sie säumen in Scharen den Wanderweg, akkurat in Reih und Glied. Erst jetzt fallen sie mir auf, so geschickt, wie sie in die Natur integriert wurden. Denn es sind nicht einfach nur bloße Lautsprecher, sie sind eingebettet in künstliche Steine. Alle zehn Meter steht ein solcher Musikstein, aus dem das gleiche Lied abgespielt wird. Ich bin zunächst fassungslos. Dann gehe ich weiter, mal schneller, mal langsamer, versuche, das Dudeln hinter mir zu lassen. Aber vergebens. Die Zittermusik bleibt mir auf den Fersen.

„Wer will denn sowas?“, frage ich mich, als ich mich nach einiger Zeit von Aufstieg und Musik erschöpft auf einem Sonnenplatz ausruhe. Ich blicke hinunter ins Tal. Es ist unwirklich. Ich sitze inmitten der Natur und doch bestimmt das Menschliche die Szenerie. Plastiksteine, Musik, Betontreppe. Es ist ein bizarres Bild. Warum die Leute wohl Ausflüge hierher machen? Ich für meinen Teil habe Ruhe gesucht. Ruhe von all dem Modernen, Lauten, Menschlichen. Eine Zuflucht in die Stille der Natur. Aber Pustekuchen.

Als ich gerade zurück auf die Treppe und weiter nach oben möchte, kommt eine Gruppe älterer Herren um die Ecke. Und plötzlich übertönt ein neuer Lärm alles bisher Dagewesene. Die Wandersleute tragen ihren eigenen kleinen Lautsprecher im Rucksack mit sich herum. Laut und etwas rauschend schallen unbekannte Songs aus den Boxen. In einer solchen Lautstärke, dass sie schreien müssen, um mir ein Hallo zu entgegnen.

Ich fasse mir innerlich an den Kopf, als sich nun Zittermusik und chinesische Volkslieder zu einem lauten, zähen Melodiebrei mischen und alles andere Leben vom Waldweg verdrängen.

Schon ein skurriles Erlebnis, dieser Wanderausflug in die „Natur“. Und es kommt Ärger in mir hoch. Es stört mich, dass es selbst hier auf dem Berg so laut ist. Das manche es sogar noch lauter machen, rücksichtslos gegenüber anderen. Und vor allem: rücksichtslos gegenüber der Natur. Ob einer an die Vögel denkt, an die Eichhörnchen, an die anderen Waldbewohner?

Gleichzeitig macht mich dieses Bild traurig. Der Mensch benimmt sich wieder einmal wie ihm beliebt, ohne Rücksicht auf Verluste. Und hinterlässt einen Fußabdruck, der kaum revidierbar ist.

Dabei spreche ich nicht von einem ausschließlich chinesischen Phänomen. Jedes Land darf sich da an die eigene Nase fassen. Man muss nur auf die Skipisten der Alpen blicken. Oder nach Brasilien, wo der Amazonas verbrennt. Da, wo Industrialisierung und Urbanisierung geschieht, muss anscheinend zwingend die Natur weichen. Es wird moderner und moderner, schneller und schneller, lauter und lauter.

Aber wenn die Natur nun sogar Gebirge und Wälder verlassen muss, was bleibt ihr dann noch? Und wohin geht der Mensch, wenn er endlich merkt, dass all die Modernität und Technik zu viel wird?

Ich blicke der Wandergruppe nach, als sie krachend und tönend nach unten poltert. Und setze meinen Weg nach oben fort. Als ich kurz unter dem Gipfel stehe, sehe ich links eine kleine Nebenroute. Ich beschließe, nicht dem Hauptpfad zur Werbeprospekt-Pagode zu folgen, sondern abzubiegen. Es geht nun geradeaus am Berg entlang.

Nach 100 Metern kommt ein kleines und – so scheint es, natürliches Steintor: Zwei große Felsen, die aneinander lehnen und friedlich Wind und Wetter trotzen. Wie zwei stille Riesen stehen sie da, wie Hüter eines jahrzehntelangen Geheimnisses. Ich gehe langsam durch diesen kleinen Tunnel hindurch. Als ich auf der anderen Seite herauskomme, bleibe ich stehen. Etwas ist anders. Ich lausche.

Nichts.

Stille.

Ich schließe die Augen.

Und kann es nicht glauben. Ich höre – nichts. Keinen Musikstein, keine Wandergruppe, keine hörbare Spur von Menschlichem. Nur ein leiser Wind, der durch die Äste streift. Ich atme tief durch. Das war es, was ich gesucht hatte. Ruhe. Völlige Ruhe. Und mir wird bewusst, wie lange ich das Ausbleiben aller Geräusche schon nicht mehr gehört hatte.

Wie einen langgesuchten Schatz genieße ich die wiedergefundene Stille und setze mich auf einen Felsvorsprung. Der Blick über das Steinmeer ist überwältigend. Ich schließe wieder die Augen und spüre die Sonne und den Wind. Nur für diesen kleinen Augenblick hat sich der Aufstieg schon gelohnt. Ich seufze.

Und just bei diesem Gedanken ist es auch schon wieder vorbei mit der Ruhe. Zwei Personen samt Musikequipment treten aus dem Steintunnel hervor. Ein neues Lied – der gleiche Lärm. Es ist ein Paar, ein Mann und eine Frau, händehaltend. Sie erblicken mich. Der Mann steigt neugierig zu mir auf den Felsen, bleibt neben mir stehen und blickt hinab in das weite Steinmeer. Das Lied tönt seine letzten Töne, dann ist für einen Moment Stille. Unsere Blicke treffen sich. Was er wohl denkt? Was er wohl sieht?

Zeit für eine Antwort bleibt nicht, denn schon erklingen die Töne des nächsten Liedes. Der Mann dreht sich um und steigt wieder hinab auf den Weg. Das Paar stapft fast schon rhythmisch zum Takt der Playlist weiter.

Ich bleibe noch einen Moment sitzen, bevor ich mich auch an den Abstieg mache. Den Abstieg zurück in die Stadt. Zurück zu den Durchsagen und zu den Megafonen. Ich seufze erneut. Ich werde zurückkommen an diesen stillen Ort. Auch wenn es vielleicht nur wenige Minuten der Ruhe bedeutet, so sind sie doch so wichtig in einem Leben voller Geräusche.


9 Gedanken zu “Auf der Suche

  1. Ich war mal mit einer Freundin in der Stadt Münster spazieren. Nach einer Weile kamen wir an einer kleiner Kirche vorbei, und ich wollte mich ein paar Minuten in Stille hinsetzen. Meine Freundin kam mit. Nach vielleicht 8-10 Minuten ging ich wieder raus, meine Freundin wartetet dort bereits auf mich.

    Sie sagte zu mir: „Es war dort drin so laut. Die vielen Geräusche und insbesondere der Baulärm waren mir zu laut, ich musste raus.“

    Jetzt, wo meine Freundin den Baulärm erwähnte, hörte ich das Geräusch der Kreissäge und andere Sachen.
    In der Kirche selbst hörte ich nur die Stille.

    Dieses gelingt mir nicht oft – aber jedes Mal ist die Stille wahrer Segen.

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    1. Lieber Daniel,
      danke für das Teilen deiner Geschichte! Mir fällt auf, dass ich wie deine Freundin auch öfter den Baulärm höre, als die Stille. Deine Erfahrung zeigt, dass beides zur gleichen Zeit möglich ist. Wie schön ❤️

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  2. Liebe Eva,
    eine reale Dystopie… und erinnert mich ein wenig an Orwells Dauerpropaganda in „1984“… Ich bin eine solche Liebhaberin der Stille, ich würde mich wohl auch sehnsüchtig auf die Suche nach ihr machen.
    Einmal wurde ich gefragt, welche Musik magst du am liebsten? Ich antworte spontan: „Die Stille“.
    Herzlichen Gruß, Sarah

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      1. Liebe Eva,
        ich wohne auch in einer großen Stadt und finde im Alltag tatsächlich nur selten tiefe Stille. Selbst im Wald hört man hier oft leise das Hintergrundrauschen der Autos. Um wirklich in Stille zu baden fahre ich ins flache Land hinaus und staune, wie wohltuend das ist: ich höre – NICHTS!🙂
        Im Alltag versuche ich sonst zumindest an Orte zu gehen, wo Ruhe und Besinnung zu finden sind. Tatsächlich leere Kirchen, ein abgeschiedener Innenhof, im Wald ein Spaziergang fern der üblichen Wege.
        Herzliche Grüße ins laute Asien und auf bald wieder einmal! Sarah

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  3. Während mein oben beschriebenes Erlebnis in Münster vom Gefühl der Stille geprägt war, kenne ich auch viele Momente, in denen mich Autos, Sirenen und sonstiger Lärm sehr zusetz(t)en.

    Von daher kann ich mir dank deiner Erzählung (zumindest ansatzweise) vorstellen, wie aufreibend die penetrante Beschallung für dich sein muss. Und ich kann deinen Wunsch nach Ruhe und Stille sehr gut nachvollziehen.

    Ich wünsche dir viele Momente der Ruhe und inneren Stille.

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